Ihr wollt uns Grüne nicht wählen, weil wir nicht cool genug sind? Lest das. Wählt uns.

Ihr wollt uns Grüne nicht wählen, weil wir nicht genug links, konsequent, radikal, vehement, rockig, vegan, kompromisslos, krass, hardcore, feministische, öko, hipster, sonstwas seien? Lest das. Wählt uns. Danke Martin Herrndorf für diese Botschaft.

An alle Grün-Nörgler*innen

Ja, Ihr. Ihr, die Ihr meint niemanden wählen zu können, weil keine*r so toll wie Ihr für Klimaschutz und Tierrechte und was-weiß-ich-nicht eintritt. Die Ihr die Grünen nicht wählen könnt, weil Ihr mal einen Ex-Landtagsabgeordneten im Dieselauto gesehen habt oder Mitglieder nach einer Versammlung Frikadellen gegessen haben oder weil Ihr Angst vor Schwarz-Grün habt (true stories).

Es geht bei der anstehen Wahl um wichtige Entscheidungen, die reale Konsequenzen haben. Es steht was auf dem Spiel.

Die Grünen haben nichts bewirkt? Naja, außer dem Atomausstieg, der Förderung der Erneuerbaren Energie und der Ehe für Alle. Letzteres als Beispiel: Zuerst von Rot-Grün so weit gebracht, wie es eben ging (die „Fehlende Hälfte“ des Partnerschaftsgesetzes wurde von CDU/CSU im Bundesrat geblockt). Dann vollständig auf wesentlichen Impuls und nach wesentlicher Lobbyarbeit der Grünen durchgebracht (ganz vorne Volker Beck, viele andere mit dran).

Es ist eben ganz und gar nicht egal, ob die CDU mit der FDP oder den Grünen regiert. Es hat reale Konsequenzen. Mit der FDP wird es ein roll-back in der Klima- und Verkehrspolitik geben, mit den Grünen nicht. Wir erleben es gerade in NRW. Mit den Grünen wird es Leute im Bundestag und den Ministerien geben, die gerne Bus, Bahn und Fahrrad fahren, und die sich dafür einsetzen.

Und auch wenn Ihr irgendeine Klein-Partei wählt oder sogar eine gegründet habt, bei allem Respekt: Auch Ihr tragt zum Debakel bei. Weil Eure Stimmen im Sonstige-Ordner landen und es damit wahrscheinlicher machen, dass es für Schwarz-Gelb reicht. Weil Eure Stimmen den Grünen fehlen wenn es darum geht, ob es für Schwarz-Grün reicht und ob die Grünen vor oder hinter der FDP liegen. Und weil Eure pauschalen Urteile über die Grünen und andere Parteien die Politikverdrossenheit weiter vorantreiben: Alle korrupt und abgehoben, überall Lobbyisten, eh egal.

Klar waren auch die Grünen mal klein und klar muss anfangen. Aber es gibt momentan kein Angebotsproblem bei linker, progressiver Politik – es gibt ein Problem, Wählerstimmen und Mehrheiten zu mobilisieren. Neue Kleinparteien helfen da wenig.

In all dem schwingt auch ein gutes Stück Verachtung für den Kompromiss – nicht den faulen, sondern den, den wir brauchen, damit die Demokratie funktioniert. Wir leben halt nicht in eine Land voll von klimabewusst-vegan-radfahrenden Feministinnen und Feministen (wenn auch manche von uns in fast solchen Stadtvierteln wohnen). Wir leben in einem Land, in dem Millionen von Menschen gerne billig Fleisch kaufen und billig Auto fahren. Man kann das abartig finden und es hat katastrophale Folgen für das Weltklima und alles andere, aber man muss im politischen Prozess auch mit diesen Menschen zusammenkommen, ja, auch die haben eine Stimmrecht und ein Recht auf politische Mitsprache.

Und in genau diesem Aushandlungsprozess spielen die Grünen. Nicht mit 100, nicht mit 50, sondern mit 8 bis 12 Prozent, vielleicht ein bisschen mehr, wenn gerade ein Atomkraftwerk explodiert (auch ne true story). Damit bekommt man nicht von heute auf morgen die Revolution durchgesetzt. Aber wenn man die Karten geschickt spielt, bekommt man vielleicht eine Energiewende hin (läuft), vielleicht den Atomausstieg (läuft), die Homo-Ehe (läuft), vielleicht auch die Mobilitätswende (offen) und den Kohleausstieg (auch offen).

Noch dazu geht es in der Politik meist nicht um einfache Fragen. Die Energiewende ist nicht einfach, Menschenrechte sind nicht einfach, Sozialpolitik ist nicht einfach. Vieles hört sich einfach und toll an, Grundeinkommen, sanktionsfrei, aber wer von Euch kennt sich denn mit den Details der Zugewinnregelungen bei Hartz IV aus? Oha, nicht so sexy. Aber in der Politik geht es realiter um solche Fragen. Und so inspirierend der „große Wurf“ auch sein mag, der Lösungen liegen doch oft in den Mühen der Ebene, und in denen kennen sich die Grünen aus. Ist nicht so sexy, aber bringt den Menschen was.

Und natürlich ist bei den Grünen nicht alles gut. Boris Palmers Flüchtlingstiraden und Winfried Kretschmanns Nähe zur Automobilindustrie sind auch intern umstritten, und natürlich ist die Verteilung von Listenplätzen kein Ponyhof. Aber: Die Grünen haben es geschafft, über die Jahrzehnte den Laden zusammenzuhalten, sich zu professionalisieren, aus Bewegung und Basis heraus Politik zu entwickeln. Während die Piraten nach und nach im Chaos versunken sind und viele andere Initiativen marginal und bedeutungslos bleiben. Gerade weil ich Basisprozesse kenne hab ich da mittlerweile großen Respekt vor.

Und ja: Wer bei den Grünen aufschlägt und aktiv werden möchte findet vielleicht nicht nur offene Ohren für seine Ideen. Parteiarbeit ist langwierig, auch in Parteien treffen unterschiedlichste Meinungen und Charaktere aufeinander. Dafür braucht es Mechanismen und Filter. Die Grünen haben nicht jahrzehntelang auf die Weisheiten von mir und dir gewartet, und wenn man das glaubt, holt man sich eine blutige Nase. Aber, meine Erfahrung: Wenn man mit der richtigen Haltung, einem Respekt vor dem Erreichten, mit Sachkenntnis und Engagement reingeht, mit Geduld und etwas Demut, dann findet man auch Gehör.

Aber vielleicht ist es uns ja auch irgendwie recht. Vielleicht haben wir uns im Zynismus damit abgefunden, dass alles so bleibt wie’s ist und wir lieber auf „die da oben“ meckern und Petitionen unterschreiben, als die Grünen, und damit ein bisschen uns selbst, an die Macht zu bringen und Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht sind wir ein bisschen erleichtert, wenn die FDP demnächst den Mindestlohn kassiert und wir die Haare wieder ein paar Euro billiger geschnitten bekommen. Dann gibt’s ne Regierung mit der wir nix am Hut haben, und dann können wir ein paar neue Petitionen machen und mehr meckern, ohne das fiese Risiko einzugehen, wie unsere super-duper-tollen Lösungen denn dann in der Realität funktionieren.

Am 24.9. wird gewählt. Und dann wird verhandelt – darüber ob der Mindestlohn steigen oder sinken soll (oder ob man ihn wieder ganz abschafft), ob man die Klima- und Verkehrswende endlich angeht oder nicht, etc. Es geht um Mandate, Mehrheiten und Macht – die Macht, Dinge zu gestalten.

Wer nicht wählt oder eine Sonstige-Klein- oder Spaßpartei, verzichtet auf seinen Einfluss. Zum Schaden von Klima und Minderheiten.

Falls es jemand noch nicht gemerkt hat: Ja, ich werde Grün wählen. Nicht als pragmatischen Notnagel, sondern mit Freude, Überzeugung und ein bisschen Stolz. Weil ich bei den Grünen viele engagierte und sachkundige Menschen getroffen habe, die sich in Themen wirklich und langfristig reinknien. Weil ich meine, dass es richtig und wichtig ist, die grünen Themen in einen Aushandlungsprozess auch mit Menschen zu tragen, die ganz anderer Meinung sind. Und weil ich gerne die Menschen mit meiner Stimme unterstütze, die diese Arbeit auf sich nehmen.

P.S.: Ja, ich bin Mitglied. Nicht, weil ich alles bei den Grünen toll finde, sondern eben, weil man als Mitglied tatsächlich und ganz real eine Stimme hat.

P.P.S.: Bevor Ihr kommentiert, beantwortet doch mal aus dem Kopf die Frage: Wie viel darf ein Hartz-4-Empfänger verdienen, bevor ihm das Geld vom Hartz-4-Satz abgezogen wird? Bin gespannt.

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